Tötet die Hunnen!
(Wilhelm Castun)

Ein Himmel‚ der von dicken Rauchschwaden verdüstert ist‚ darunter zerstörte Städte‚ Kirchen‚ Wälder in brandigem Rostbraun. Alles spiegelt sich im Meer‚ von dem kleine Wellen die Küste im Vordergrund anrollen. Für ganz Begriffsstutzige ist der Strand im Vordergrund noch mit den Lettern "Amerika" beschriftet. Das Meer hat soeben ein riesiger und überaus häßlicher Gorilla überwunden‚ der brüllt und so Reißzähne zeigt. In der blutbefleckten rechten Hand hält er eine Keule‚ an der so viel Blut und blutige Fleischfetzen kleben‚ daß man die Beschriftung der Keule gerade noch erkennen kann‚ sie lautet "Kultur". Mit seinem linken Arm umklammert er ein weißes Mädchen‚ das sich aus dem Jugendstil in diesen Horrorfilm verirrt hat. Brustlange lockige kastanienbraune Haare‚ ein seidenes Gewand‚ das ihr die Rohheit schon so weit heruntergezogen hat‚ daß die Brüste freiliegen. Mit einer Hand hält sie sich das Ohr zu mir dem anderen bedeckt sie das Gesicht‚ was eigentlich unmöglich ist‚ weil die zarte Hand nur für die Augen hinreicht. Mund und Nase fehlen aber. Zum Gorilla sind noch die Details nachzutragen‚ daß er eine Pickelhaube mit der Aufschrift "Militarism" und einen blonden Schnurrbart in der Art Wilhelms II. trägt. Der Text "Destroy this mad brute! Enlist!"
Uns fällt heute die Vorstellung schwer‚ daß eine derart plumpe Propaganda die beabsichtigte Wirkung zeigen könne‚ auch wenn es mehr als einen Meter groß massenhaft plakatiert wurde. Dazu sind drei Dinge anzumerken. Zum einen war damals die Propaganda etwas völlig Neues‚ die Betrachter hatten nicht die Erfahrung Spätergeborener im Umgang damit und also auch weniger Skepsis. Zum anderen wirkte das Plakat nicht isoliert‚ sondern eingebettet in eine Flut von Greuelnachrichten‚ wie etwa die‚ die Deutschen hätten bei Ihrem Einmarsch in Belgien allen Kindern die Hände abgeschlagen. Zum dritten erweisen sich auch heute die simplen Botschaften als die wirkmächtigsten. Als im ersten Irak-Krieg eine Frau aussagte‚ sie sei Krankenschwester und hätte mit ansehen müssen‚ wie die irakischen Soldaten Neugeborene aus den Brutkästen genommen und auf den Boden geworfen hätten‚ kam Kriegsbegeisterung auf. Dabei kam rasch heraus‚ daß die Dame weder Krankenschwester war‚ noch zum Tatzeitpunkt im Lande. Aber was ändert das? Die Aggression ist da‚ und wenn die Gründe wegfallen‚ finden sich neue. In meiner Militärzeit bei der Nationalen Volksarmee der DDR erlebte ich den "Politunterricht" etwa so: "Für Staat und Partei ist der Feind abstrakt‚ der Imperialismus‚ die Bourgeosie‚ das Monopolkapital‚ für den Soldaten ist der Feind immer konkret. Unser Feind ist der Bundeswehrsoldat. Was will der Bundeswehrsoldat? – Hier einfallen‚ unsere Frauen vergewaltigen‚ unsere Kinder massakrieren." Niemand lachte. Und dies nicht‚ weil sich keiner getraut hätte. Die Soldaten trauten sich gerade bei solchen "Schulstunden" eine ganze Menge‚ und solche Despektierlichkeiten wurden viel harmloser genommen als lockere Knöpfe oder Säumigkeit beim Antreten. Ich sprach hinterher mit einigen im Vertrauen und sie meinten unisono‚ da sei schon was dran‚ im Krieg sei das eben so. Zum Gunsten der wehrplichtigen jungen Männer muß ich anmerken‚ daß es monatelang keinen Ausgang gab und fast alle unter einem großen sexuellen Druck standen. Sie waren zumindest in ihrer Vorstellung nicht mehr besonders wählerisch. Und sie glaubten alle‚ der Bundeswehrsoldat sei genau in derselben Lage und er würde sich‚ wenn ihm alles erlaubt würde‚ entsprechend aufführen. Hinzu kam der DDR-Geschichtsunterricht‚ wo gelehrt wurde‚ die Wehrmacht hätte sich im Ausland grundsätzlich so aufgeführt wie die Schweden im Dreißigjährigen Krieg. Im passenden Kontext wirkt die plumpeste Hetze.
Das neuerschienene Buch mit dem Propagandaplakat von 1917 auf dem Einband beschreibt Geheimdienste‚ Propaganda und Subversion hinter den Kulissen des Ersten Weltkriegs. Es tritt der der Vorstellung entgegen‚ Kriege würden allein durch die großen Land- und Seeschlachten‚ durch die Strategien der Generäle‚ durch die Tapferkeit der Soldaten entschieden. Natürlich muß in jedem Krieg der Frontkämpfer genau dies glauben. Aber es stimmt schon in vormodernen Kriegen nur bedingt und noch weniger‚ seit der Krieg industriell geführt wird. Für Europa war der Erste Weltkrieg der erste industrielle Krieg‚ das Trauma des deutschen Frontsoldaten beginnt mit der Einsicht‚ daß die Entscheidung nicht an der Front fiel. Dies ist aber nicht das Thema des Buches. Hier wurde akribisch alles das zusammengetragen‚ was in der Kriegsberichterstattung notwendig fehlt‚ später aber auch nach Bekanntwerden vom Historiker oft zu wenig gewürdigt wird. Und dieses unfangreiche Material verändert unser Bild von diesem Krieg wesentlich.
Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte: Die Morde von Sarajewo‚ Einkreisung Deutschlands‚ Den Krieg mit allen Mitteln ans Ende bringen‚ Kriegziel USA‚ Rußland. Es endet mit der deutschen Inszenierung der Oktoberrevolution. Das Jahr 1918‚ als das Jahr der Entscheidung‚ wird also nicht behandelt.
Das Attentat von Sarajewo ist zwar jedermann geläufig‚ im allgemeinen hält man es jedoch für ein unbedeutendes Ereignis‚ das zum Vorwand des Krieges herhalten mußte. Kaum bekannt ist‚ daß der österreichische Thronfolger genau deshalb sterben mußte‚ weil man ihm zutraute‚ die Donaumonarchie in eine stabile Föderation zu überführen. Dies mußten Rußland und Frankreich verhindern. Rußland wollte den Balkan-Krieg‚ um die Darnadellen-Öffnung zu erzwingen‚ Frankreich‚ um den Bündnisfall auszulösen und damit eine alte Rechnung mit dem Deutschen Reich zu begleichen.
Wenig Bekanntes findet man in diesem Buches zuhauf. Wie es in England eine kleine Clique schaffte‚ am Parlament vorbei Geheimdienststrukturen zu schaffen‚ die mit der Herstellung und Verbreitung von gezielten Falschinformationen Hysterie in der kriegsunwilligen Bevölkerung auslöste. Wie es im angeblich so freien England sofort bei Kriegsbeginn zu einer flächendeckenden Bevölkerungsüberwachung kam. Oder wie viele false-flag-Anschäge der britische Marinegeheimdienst in den Vereinigten Staaten verübte‚ um diese in den Krieg zu zwingen.
Aber auch die Deutschen werden in diesem Buch scharf kritisiert. Nicht nur‚ weil sie die Einkreisung unterschätzten‚ weil sie auf falsche Geheimdienstinformationen vertrauten‚ richtige in ihrer Bedeutung unterschätzten und sich mit dem Einmarsch ins formal neutrale Belgien gegenüber der Weltöffentlichkeit irreparabel ins Unrecht setzten. Eine der folgenschwersten Entscheidungen waren die deutschen Bemühungen zur Destabilisierung Rußlands und Herauslösung aus der Front der Kriegsgegner. Seit 1915 wurden Sabotageakte in Rußland durchgeführt‚ gemeinsam mit Sozialisten Streiks organisiert. Die Februarrevolution brachte jedoch nicht das gewünschte Ergebnis. Allgemein bekannt ist‚ daß Lenin über Deutschland und Schweden zurück nach Rußland reiste‚ aber nicht‚ daß in Berlin genaue Verabredungen über Ablauf und Finanzierung der Revolution getroffen wurden. Als Lenins erster Putschversuch im Juni 1917 scheiterte‚ waren die Untersützungsstrukturen schon so gefestigt‚ daß ein zweiter Versuch im November gelang.
Die wirkliche Geschichte ist spannender als jede erfundene‚ jedenfalls dann‚ wenn sie ohne Scheuklappen erzählt wird. Für den Autor ist das Buch das Ergebnis einer Suche‚ die für ihn schon als Schüler begonnen hat. Damals lebten noch viele Männer und Frauen‚ denen sich Schützengraben und Steckrübenwinter als grausige Erinnerung unauslöschlich eingeprägt hatten. Ihre Versuche‚ dem neugierigen Knaben das Unbegreifliche deutlich zu machen‚ führten dazu‚ daß ihm immer ganz konkrete Menschen vor dem inneren Auge als handelnde Personen erschienen. Dies erklärt die Lebendigkeit des Buches‚ das nicht in akademischer Abgehobenheit verfaßt wurde‚ sondern von einem Betroffenen. Nicht von einem "Betroffenen" eines modischen Betroffenheitskults‚ sondern von einem Deutschen‚ der sein ganzes Leben von diesen Schicksalsjahren geprägt spürt.

Roewer‚ Helmut: Kill the huns – Tötet die Hunnen! Geheimdienste‚ Propaganda und Subversion hinter den Kulissen des Ersten Weltkrieges. 2014. 504 S.‚ zahlr. Abb. ISBN 978-3-902732-27-9 Ares Gb. 29‚90 €

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