Apologie der sozialen Medien
(Wilhelm Castun)

Ein Buch‚ das ich gegen den Defätismus richtet‚ wäre ja eigent~lich zu begrüßen. Freilich nur‚ wenn vernünftige Wege zu einem vernünftigen Ziel aufgezeigt würden. Diese »Apologie« erinnert mich jedoch an Lenins Losung‚ daß Rußlands Elektrifizierung verbunden mit seiner Diktatur in der zwingenden Weise einer mathematischen Gleichung zum irdischen Paradies‚ zur Glück~se~lig~keit aller führen würde. Historisch ist das krasse Gegenteil eingetreten. Dies war aber gar nicht nötig‚ um die logische und historische Absurdität von Lenins Formel zu offenbaren.
Der Verlag wirbt für das Buch mit der Behauptung‚ daß es sich gegen den Kulturpessimismus der Massenmedien stelle. In arroganter Weise würden die Journalisten Facebook‚ Google‚ Youtube etc. als Verführer geistig minderbemittelter Herden denunzieren und sich selber eine vornehme Zurückhaltung bescheinigen. Nun mag zwar stimmen‚ daß mancher der Warner selber ein Süchtiger ist und also der Heuchelei bezichtigt werden darf. Dies entkräftet aber nicht die Argumente‚ die virtuellen Netzwerke führten zu sozialer Kälte und zu intellektueller Einseitigkeit und Verarmung. Der Werbetext versucht die War~nungen damit lächerlich zu machen‚ daß er meint‚ hier würde wieder einmal das Ende der Zivilisation beschworen.
Da das Weltende schon oft prophezeit wurde‚ aber nicht eintrat‚ ist hier gut lachen. Die Tatsache‚ daß weder die Erfindung des Schießpulvers‚ noch die des Dynamits das Ende der Zivilisation herbeigeführt haben‚ beweist aber nicht‚ daß sich dies bei der Atombombe ebenso verhalte. Außerdem übersieht eine solche Argumentation die Opfer der Industrialisierung. Die ausge~rot~te~ten Indianer Nordamerikas wären‚ könnten sie ihre Stimme aus dem Jenseits geltend machen‚ bestimmt nicht der Meinung‚ Warnungen vor neuer Technologie hätten sich stets als Sturm im Wasserglas entpuppt.
Wir wollen aber das Buch nicht mit allgemeinen Vorbehalten abtun‚ sondern auf die Argumente des Autors eingehen. Zwei Linien sehe ich hier. Zunächst eine verharmlosende‚ mit der sich der Autor das Zeugnis ausstellt‚ im Gegensatz zu allen Unken~rufen scheue er sich nicht‚ lang begonnene und unwiderrufliche Entwicklungen anzuerkennen. Thoreau sei geschockt gewesen‚ als Telephonleitungen in die Wildnis gelegt wurden. Aber schon Edgar Allan Poe und Charles Baudelaire hätten die faszi~nie~ren~den Möglichkeiten neuer Kommunikationsformen gesehen.
Poe und Baudelaire scheinen für den Autor ein Heiliger Thomas zu sein. Große Männer‚ große Irrtümer‚ sagt der Volksmund. Daß Männer großen Geistes eine These vertreten haben‚ besagt über die Richtigkeit gar nichts. Lenin war auch nicht nur ein Verbrecher‚ sondern ein Genie. Diese Art der Argumentation ist einfach unwürdig.
Im übrigen habe ich selbst als Kind von einem Walkie-Talkie geträumt und mir vorgestellt‚ wie toll dies bei Räuber-und-Gendarm-Spielen wäre. Dennoch bin ich heute ein Totalver~wei~ge~rer in Sachen Handy und lasse mich auch von Szenarien wie Verlaufen im Wald u.ä. nicht zu diesem Zeug verführen. Mancher bleibt freilich leblang ein Kind.
Auch daß Telephon‚ elektrischer Strom‚ Gasheizung‚ Leitungs~wasser unwiderrufliche Dinge seien‚ wage ich zu bezweifeln‚ die Römer des vierten Jahrhunderts wohnten auch schon in vier~stöckigen Häusern und haben sich für das nächste bestimmt fünf~stöckige vorgestellt. Aber sie lebten dann in Erdhütten.
Daß eine Entwicklung über mehrere Generationen in eine bestimmte Richtung lief‚ besagt über die Zukunft rein gar nichts. Der Mensch neigt zum Extrapolieren. Die Weisen haben darüber schon in der Antike gelacht.
Die zweite Argumentationslinie des Autors verknüpft die neuen Technologien mit romantischen Utopien. Es geschehe ein Wiederaufbau eines Reiches der Liebe (nicht Eros‚ sondern Agape)‚ ureigenste menschliche Bedürfnisse würden erfüllt und grundlegende Optionen des Humanen würden sichtbar. In seinem Überschwang wird er im schlechten Sinne poetisch: das Zwitschern des Twitter‚ das Du des Youtube‚ das Ich des Facebook‚ sie etablierten ein neues Verhältnis von Ich und Du‚ das in einem herrschaftsfreien‚ noch uncodierten Raum die Entfaltung der Persönlichkeit zuließe und den Menschen fit mache für die Möglichkeiten des Sozialen in der realen Welt.
Wenn es nicht so traurig wäre‚ würde man über so viel Einfalt laut loslachen. Da installieren milliardenschwere Konzerne bru~tale Gleichschaltungs- und Kontrollinstrumente und der Autor schwärmt von einem herrrschaftsfreien Raum. Ein Reich der Liebe? Hat der Autor denn eine Ahnung davon‚ daß gemessen an der Brutalität des Fleischmarktes im Internet ein Tanzlokal einem Mädchenpensionat gleicht?
Wir erleben hier im Sachbuchmarkt‚ was im belletristischen Bereich seit langem offenkund ist‚ besonders in den Seg~men~ten »Science fiction« und »Fantasy«. Die reale Bedrohung wächst‚ gleichzeitig nimmt die Infantilisierung immer mehr zu. Notfalls werden die Außerirdischen unsere Schuldenprobleme lösen. Die Kernfusion wird schon bald das Öl überflüssig machen etc. etc.
Diese Träumereien sind nicht harmlose Spinne. Sie sind die Basis eines gewaltigen Herrschaftspotentials‚ das nicht nur die nütz~li~chen Idioten‚ sondern auch sonst alle Welt bedroht.

Pschera‚ Alexander: 800 Millionen. Apologie der sozialen Medien. 2011. 111 S. ISBN 978-3-88221-578-6 Matthes & Seitz Kt. 10‚– €

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