Mythos Linde
(Michel Brunner)

Unter unseren heimischen Bäumen gibt es viele‚ die kulturell eine wichtige Rolle spielen. Keiner stand dem Menschen aber jemals so nahe wie die Linde. Seit jeher wird sie besungen und viele Legenden ranken sich um die Linde.
»So wie Heimat kein geografischer Begriff‚ sondern eher ein religiöser Zustand ist‚ so wie die Zeit nichts Messbares‚ sondern ein qualitativer Vorgang‚ uns so wie Naturschutz keine Wissenschaft‚ sondern eher eine Denkweise ist‚ genauso ist die Linde für mich eher ein Geheimnis als ein Baum.« (Hubert Weinzierl)

Kein Baum ist so formenreich und anpassungsfähig wie die Linde. Ihre Geschmeidigkeit und ihre Nachgiebigkeit gegenüber äusserlichen Einflüssen sind ihre Stärke. Aus diesem Grund gehört die Linde mit bis zu 30m Stammumfang nicht nur zu den dicksten Bäumen Europas‚ sondern mit bis zu 6000 Jahren auch zu den ältesten Lebewesen der Erde.
Doch welche mythologischen und geschichtlichen Hintergründe haben dazu geführt‚ dass Mensch und Baum ein so enges Bündnis eingingen‚ dass es bis heute in vielen Teilen Europas erhalten geblieben ist?
Die Linde ist Sinnbild für die Gemeinde‚ sie ist der »Baum des Volkes«. Alleine im deutschen Sprachraum beziehen sich 1142 Ortsnamen auf die Linde. Bei Bauern‚ Minnensängern und Dichtern war sie stets ein willkommenes Motiv. »Am Brunnen vor dem Tore‚ da steht ein Lindenbaum…« erzählt von einem Baum‚ den Wilhelm Müller im 19. Jahrhundert in Bad Sooden-Allenbach gesehen hat und dessen Gedicht Franz Schubert 1827 als Volkslied vertonte.
In Japan sind Lindenzweige Symbol des Frühlings‚ und den Monat Juli kannte man früher auch unter der Bezeichnung »Lindenmonat«. »Lichtbaum« nennt man sie auch‚ der gelben Blüten wegen‚ die so hell leuchten‚ als schienen einem tausend Lichter entgegen. So gilt die Linde ganz allgemein als Baum des Friedens‚ Freude‚ Feste‚ Wohlstands und der Wiedervereinigung. In Deutschland stehen nicht nur auf dem heutigen neu errechneten Mittelpunkt Deutschlands‚ sondern auch im geografischen Zentrum der alten Bundesrepublik je eine Linde.
Die Linde gilt wegen ihrer weichen Baumarchitektur als weiblicher Baum. Unter ihrer Krone mögen viele Liebschaften ihren Anfang gefunden haben‚ denn in ihren Zweigen singt die Nachtigall‚ der Liebesvogel‚ ihre Lieder. Als Zeichen der Fruchtbarkeit wurde früher des betörenden Duftes wegen das Liebesnest mit Lindenblüten gepolstert. Und das symbolische Herz‚ das zwei Namen vereint – und mit dem Organ im menschlichen Körper nicht vergleichbar ist – ist nichts anderes als ein stilisiertes Lindenblatt. So findet nach Gottfried von Strassburg Isolde nur unter einer Linde über ihren Kummer hinweg. Im Märchen »Die wahre Braut« wartet das Mädchen auf ihren Geliebten unter einer Linde‚ und Jeremias Gotthelf erzählt‚ wie »Elsi‚ die seltsame Magd« zusammen mit ihrem Mann durch französische Truppen unter einer Linde in Fraubrunnen bei Bern stirbt.
Eine dänische Sage berichtet‚ wie zwei Geliebte nach ihrem Tod getrennt begraben wurden – jeder auf einer anderen Seite der Kirche –‚ die auf den Gräbern der beiden gepflanzten Linden fanden aber über dem Dach des Gotteshauses wieder zusammen und fügten ihre Zweige ineinander. In der Mainacht stiegen junge Franzosen auf das Dach ihrer Angebeteten‚ um als Zeichen der Liebe auf dem Schornstein einen Lindenzweig zu deponieren.
Die Linde erreichte als Forstgehölz zwar nie die Bedeutung von Fichte oder Eiche‚ war aber als Nutzpflanze trotzdem sehr begehrt. Lindenzweige verfütterte man im Winter den Tieren‚ Menschen dienten sie als Tabakersatz. Aus den Samen stellte man eine Art Kaffee her‚ und aus jungen‚ zarten Blättern lassen sich hervorragende Salate‚ Gemüsesuppen‚ Frühlingsrollen und Spinat zaubern. Aus Holz und vor allem Blättern machte man in Zeiten des Notstands sogar »grünes Mehl«‚ mit dem man dank des hohen Stärkegehaltes backen konnte. Mit Samen und Blüten wusste man im 18. Jahrhundert Schokolade zu verfeinern.
Der Honig aus Blatt- und Blütenhonig war so wertvoll‚ dass man früher einen Teil des gewonnen Honigs den Landesheeren als »Honiggeld« abgeben musste. Bereits die Römer nannten Lindenwälder deshalb die »heilige Bienenweide«. Als es noch keine Kunststoffe gab‚ war das weiche Lindenholz für allerlei Haushaltsgegenstände beliebt. Heute braucht man es nur noch für wenige Dinge‚ etwa für die Herstellung von Zeichenkohle‚ Reissbretter‚ Pinselstiele und Hutformen.
Bereits die Griechen kannten die heilsame Wirkung der Blüten. Ab dem 16. Jahrhundert wurden die Blüten als Medizinaltee getrunken. Lindenblüten sind schweiss- und harntreibend‚ schleim- und krampflösend und »lindern«‚ wie der Name verspricht‚ manche Gebresten. Insbesondere bei Fieber und Nervenleiden helfen die Blüten. Im Nordpfälzischen heisst es deshalb ganz einfach: »Lindenblut ist für alles gut.«
Aber auch andere Pflanzenteile können je nach Anwendung »Linderung« verschaffen. Die Samen z.B. sollen in der »Dreisgenzeit« (magische Kalendertage zwischen dem 15. August und dem 8. September) gegen die rote Ruhr (Blut im Stuhl) und Durchfall helfen. Lindenblätter wiederum stärken als Teeaufguss die Kopfhaut‚ machen das Haar kräftig und geschmeidig. Angeblich soll dies sogar das Ausfallen der Haare verhindern. Baumheilkundlich betrachtet‚ verhilft die Linde rastlos gehetzten Menschen zu innerer Ruhe‚ stärkt die Konzentrationsfähigkeit und bei regelmässiger Begegnung sogar das Herz. So heisst es auch‚ dass Lungenleidende die frühmorgens täglich unter einer Lindenkrone 150-mal ein- und ausatmen‚ Linderung und selbst die hektischsten Menschen Ruhe und Besinnung finden.
Text und Bilder © 2011 Michel Brunner www.proarbore.com


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