Abenteuer Erfurt
(Ilse Tödt)

Ich mochte gar nicht aufhören zu lesen. Dem Alltagsleben abgeschaute Geschichten‚ dreiundsechzig an der Zahl‚ jede Überschrift angereichert mit einer Kurz-Vorschau‚ lockten mich weiter und weiter. Als ich wenig später noch einmal von vorn begann‚ las ich die Hunderte von Seiten ebenso atemlos.
Der Buchumschlag gibt ein Aquarell wieder (von ihm ist ab Seite 428 die Rede): Häuserwände eng gedrängt‚ Fachwerk liegt bloß. Damit ist auf den Schauplatz der Mitte des Buches verwiesen: die Erfurter Altstadt. Genauer: ein 1771 erbautes dreistöckiges Handelshaus. Noch genauer: die Wohnung im Hochparterre. Die Helden des Buches‚ Frank und Fränzi‚ übernehmen die Räume in marodem Zustand‚ renovieren sie mit kostengünstiger Unterstützung durch hilfsbereite Handwerker und hausen dort von 1992 an unter immer klammeren finanziellen Umständen sieben Jahre lang. Von diesem Standort aus entfaltet sich ein Panoptikum: die Mitbewohner des Hauses –- Frau Mollich als Schwergewicht in der Burleske –-‚ die bunte Reihe der Untermieter –- vom edlen Afrikaner bis zum Drogendealer‚ der von Sozialhilfe lebt –-‚ Straßenszenen – bei Altstadtfesten fliehen Fränzi und Frank vor dem Musiklärm an ihrer Hauswand in einen verwilderten Schrebergarten –-‚ Spaziergänge durch die nähere Umgebung –- dabei kommt der Flutgraben in den Blick‚ und dem Uneingeweihten wird der Ausdruck »Erfurter Flutgrabendeutsch« deutlicher (Dialektpassagen erscheinen in lautmalerischer Umschrift) –-‚ Fahrten in weiteres Umland‚ das Frank als Handelsvertreter bereisen muß. Der zusammen mit seinem Betrieb abgewickelte Ingenieur wird als Arbeitsuchender angestiftet zum Verkaufen von Produkten wie Strom fressenden Elektroöfen oder riskanten Geldanlagen. Diese Tätigkeiten gibt er umgehend auf‚ sobald er die Unseriosität der Geschäfte erkannt hat. Über dabei Gelerntes bekommt der Leser nebenbei‚ stets erzählend‚ präzise Informationen samt Zahlenangaben. Die einzige Chance auf eine seriöse Arbeitsmöglichkeit wird zunichte durch sein Lebensalter: Wer auf die sechzig zugeht‚ ist einem Arbeitgeber zu teuer.
Die Vorgeschichte vor dem Einzug in die Ausbauwohnung zeigt Fränzi mit Zeichenblock im Erfurter Stadtpark. Sie‚ in der Altersklasse ähnlich‚ fällt Frank auf. Als Erzieherin hatte sie unter der befohlenen Militarisierung bereits der Schulanfänger so gelitten‚ daß ihre Nerven zusammenbrachen und sie berufsunfähig wurde. Frank und Fränzi gefallen einander spontan. Beide entschließen sich‚ aus ihren wenig gelungenen früheren Leben auszuziehen und sich zu diesem neuen Glück zu bekennen. Die früheren Ehepartner werden nicht als düstere Folie‚ sondern fair charakterisiert. Mit den Kindern bleiben Fränzi und Frank gemeinsam in Kontakt. Frank hilft seinem jüngeren Sohn‚ der den Vater kumpelhaft stützt‚ erfolgreich bei den Schularbeiten besonders in Mathematik. Fränzis Ältester‚ Offizier auf einem Containerschiff‚ schickt muntere Berichte aus Hafenstädten am indischen‚ pazifischen und atlantischen Ozean.
Nach dem Auszug aus der Erfurter Wohnung beginnen Frank und Fränzi ein Leben in Genügsamkeit auf dem Lande‚ froh‚ sich Tätigkeiten widmen zu können‚ die andere Menschen nicht übervorteilen: eigenem Malen und Dichten. (Ihre Kunstfertigkeiten hatten brach gelegen wie unbestellter ukrainischer Schwarzerdeboden‚ steht auf Seite 428. Aparte Naturvergleiche wie dieser erfreuten mich‚ so auch 89: Illusionen von Ruhm verfliegen wie ungefütterte Tauben aus dem Schlag‚ 347: Finanzunternehmen haben nach der Wende das Land abgegrast wie eine Schafherde die Streuobstwiese.) Die Hochzeit des Rentner-Brautpaars wird auf den Termin eines Landurlaubs des Seeoffiziers gelegt. Er‚ charmant und liebevoll‚ löst letzte Verstimmungen im Familienkreis auf.
Auf Seite 2 wird gewarnt: »…nicht alles‚ was Sie hier lesen‚ ist erfunden!« Menschen mit dem Hintergrund der neuen Bundesländer werden Altbekanntes und Selbst-Erfahrenes wiedererkennen‚ Menschen aus den alten Bundesländern werden Neues‚ Befremdendes‚ Erschreckendes erfahren von den Auswirkungen westlicher Kolonisierungsbemühungen im Osten. Frank trägt einen Rückblick auf seine Erfurter Versuche‚ in der Marktwirtschaft Geld zu verdienen‚ als Gedicht vor bei der Trauung‚ zu der es oberflächlich gesehen nicht recht paßt. Franks Freund kommentiert halblaut: »Die Verse waren gut‚ es konnte einem nur schlecht werden!« (543–546) Ja‚ bittere Nahezu-Verzweiflung wird deutlich. Daß sie nicht vollends niederdrückt‚ liegt am mitmenschlichen Glück. All das äußerst Unerquickliche wird mildernd aufgefangen von Frank und Fränzis vertrauter‚ diskret geschilderter Zärtlichkeit und in ihren übermütigen Gesprächen. Für gelingende Zweisamkeit zeugt untergründig auch‚ daß das Buch im Dialog geschrieben ist -– man meint zu hören‚ wie ein Partner den anderen fragt »Weißt Du noch?« –- und zu einem Ganzen verschmolz.
Der Seeoffizier‚ strahlende Lichtgestalt des Buches‚ hat sein Urbild in Gisela Reins Sohn‚ von dessen »verlorener Jugend in der DDR« und frühem Tod der Tatsachenroman »Falkenflug« handelt.
Mir ging die Frage nach: Wie prägt ein Regime und wie verändert ein Regimewechsel das Verhalten des einzelnen Menschen? »࡚ls Frank einen Vorarbeiter aus einem volkseigenen Betrieb trifft‚ der sich in einen kapitalistischen Unternehmer verwandelt hat« (Überschriftszusatz 131)‚ erkennt er ihn nicht wieder. »Der war nett und freundlich‚ wenn ich ihn was gefragt habe‚ hat mir alles erklärt‚ war nie ungeduldig…« (136) Jetzt kommt Gier und Skrupellosigkeit bei ihm heraus. »Solange einem kein Betrug nachgewiesen werden kann‚ hab ich keinen Nachteil.« (134) Hielt der Zwang der Planwirtschaft die Eigeninitiative klein und nivellierte alle zu kleinen Leuten? Zwingt die Marktwirtschaft zum Profitmachen auf eigene Faust und zum Großwerdenwollen auf Kosten anderer? Dietrich Bonhoeffer überlegte unter dem Unrechtsregime des Dritten Reiches: Im Verhalten müssen Freiheit und Bindung eins werden. Durch kein Machtverhältnis darf man sich die Freiheit zu eigenverantwortlicher Entscheidung abzwingen lassen‚ aber man darf sich auch nicht blind machen dafür‚ daß man in der Lebenswirklichkeit an andere und anderes gebunden bleibt‚ mitverantwortlich für anderer Wohl oder Wehe.

Irmscher‚ Claus/ Rein‚ Gisela: Abenteuer Erfurt. Die Erlebnisse zweier 50-Jähriger zwischen Lebenskampf und Glückssuche nach der friedlichen Revolution. 2011. 576 S. ISBN 978-3-941892-03-3 Espero Verlag Gb. 19‚90 €

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