Beständigkeit der Wiederkehr
(Dieter Wolf)

Es begab sich an einem stürmischen Winterabend. Vor dem Fenster wehten große weiße Flocken und der Wind pfiff ums Haus. Ich wohnte damals in einem alten Holzhaus direkt am Waldrand. Das Haus gehört mir heute noch immer‚ aber ich verbringe nun mehr Zeit in den Städten oder bin auf Reisen. Aber ein paar Wochen im Jahr bleiben mir‚ dann wohne ich in diesem alten Holzhaus direkt am Waldrand. Es ist ein ruhiger Platz zum Nachdenken.
Ich war gerade damit beschäftigt‚ ein Stück Holz in den alten Küchenofen nachzulegen‚ als es an der Tür klingelte. Vor der Tür stand ein Schneemensch‚ ein echter Yeti. Er fragte mich‚ ob er gemeinsam mit seinen Hunden in meinem Holzschuppen übernachten dürfe. Ohne weiter zu überlegen willigte ich ein. Ich holte den Schlüssel vom Holzschuppen und schloß auf. Sofort verschwanden seine fünf Hunde im Schuppen. Mich hatte noch nie ein Schneemensch besucht‚ und ich erhoffte mir daher eine ausgedehnte abendliche Unterhaltung. Als der Schneemensch den Hunden folgen wollte‚ bat ich ihn‚ doch mit ins Haus zu kommen‚ und ich bot ihm ein Glas Tee und einen Teller warme Suppe an. Über die Hunde wunderte ich mich‚ schliefen sie doch normalerweise im Schnee‚ ließen sich vom Schnee zudecken und am Morgen standen sie auf‚ schüttelten sich‚ freuten sich über die Morgensonne und das baldige Umherschweifen in der Eislandschaft. Als ich den Yeti darüber befragte‚ stimmte er mir in dieser Angelegenheit zu‚ erklärte jedoch‚ die Hunde seien es nicht gewohnt‚ Maschinengeräusche zu hören‚ selbst in der Ferne‚ sie würden unruhig‚ wenn sie im Freien übernachteten‚ im Schuppen würden sie sich jedoch sicher fühlen. Er selbst hingegen könne problemlos im Schnee übernachten.
Wir gingen zurück ins Haus‚ zurück in die Küche‚ in der das Holzfeuer brannte‚ und zu meiner Überraschung sprach er mich mit dem Namen Dietrich an‚ mein Vorname lautete aber nicht Dietrich‚ aber er klang so ähnlich. Ich vermied es jedoch‚ ihn zu korrigieren. Er selbst hieße Esk‚ sagte er mir. Er sprach ein sehr altertümliches Deutsch und verwandte Worte‚ die zum Teil schon Jahrhunderte nicht mehr in Gebrauch waren. Daraufhin angesprochen antwortete er: »Es sey gut oder überzwerck‚ das Admirieren läßt sich nicht ausschalten. Hier ist ein Zwaypunkt zu setzen. Denn es ist oft ein Bocksgesang‚ daher bedarf es eines Trichters.« Ich gab mir Mühe‚ ihn zu verstehen‚ beinahe wäre mir die Suppe angebrannt. Ein Trichter‚ so wußte ich‚ war ein früher gängiger Ausdruck für Lehrbücher und Leitfäden. Instinktiv griff ich ins Weinregal und entkorkte eine Flasche Merlot von 1919 und goß zwei große Gläser ein. Auch ein Schneemensch benötigt manchmal etwas Frostschutzmittel‚ dachte ich bei mir. Ob ich einen Bleiweißstift hätte‚ fragte er mich. Ich antwortete: »Nur einen Bleistrich!« Was natürlich völlig blödsinnig war‚ denn ich wollte sagen‚ daß ich einen Bleistift habe. Vor Verlegenheit begann ich meine Suppe zu löffeln. Esk nahm seinen Teller Suppe vom Tisch und begann im Stehen zu essen. Ich deutete mit der Hand auf die leeren Stühle am Tisch‚ doch er dachte gar nicht daran sich zu setzen‚ sondern entgegnete nur: »Setzen wir ein Strichpünktlein! Essenszeit ist Essenszeit und Denkzeit ist Denkzeit!«
Nach dem Essen und dem ersten Glas Wein‚ welches wir im Stehen tranken‚ erklärte mir Esk‚ er sitze am liebsten auf dem Boden. Ich ging in ein Nebenzimmer und holte ein Fell‚ welches einst Lola gehört hatte. Im Grunde gehört es ihr noch immer‚ aber sie kommt nicht mehr. Lola war ein Mischlingshund und kam stets in Begleitung einer Mischlingskatze. Es ist ein seltsames Bild zu sehen‚ wie eine aufrecht gehende Katze einen Hund an der Leine führt. Ein Hund gewöhnt sich an Menschen‚ eine Katze ans Haus‚ aber irgendwann kamen beide nicht mehr‚ nur das Fell‚ ein helles Schaffell‚ war mir zur Erinnerung daran geblieben. Esk setzte sich auf das Fell auf dem Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Und ohne die näheren Zusammenhänge zu kennen sagte er zu mir: »Man muß kein Hundevernünftler sein oder gar ein Katzenvernünftler‚ um sagen zu können‚ vielleicht ist es besser so‚ vor allem die Ichsamkeit der Katzen ist oft ein Problem‚ zudem leiden sie häufig unter Landschnupfen und sind sehr wechselhaft gelaunt‚ des weiteren unbeständig in ihren Ansichten. Natürlich sind sie schnellkräftig und prallig‚ doch in vielem Kinderlinge. Manche lieben Tropfbäder. Sie schaffen mehr Urgemengsel als Ordnung. »Katte« ist ein gemeineuropäisches‚ aber recht spät auftretendes Wanderwort und damit ist eigentlich schon alles gesagt. Katzenglimmer bleibt Katzenglimmer‚ auch wenn man ihn »Katzenglämmer« nennt.«
Ich war verblüfft über die Ansichten von Esk‚ aber ich wollte mich nicht innerlich damit auseinandersetzen. Viel lieber wollte ich etwas über die Eislandschaften seiner Heimat erfahren‚ über die Polarnächte‚ die Art und Weise‚ wie man in dieser Welt überlebte und ob sich nun wirklich das Eis zurückzöge oder uns eine neue Eiszeit drohe. Also fragte ich: »Esk‚ sag mal‚ taut jetzt wirklich alles auf bei euch da oben?«
Er schaute mich verblüfft an und schwieg. Um das Schweigen zu überbrücken‚ vielleicht wollte er ja nicht vorschnell antworten‚ sondern sich seine Worte nur in Ruhe überlegen‚ begann ich zu erzählen: »Karl Schimpers Ansicht‚ dicke Eispanzer hätten die Alpen und große Teile Europas‚ Asiens und Nordamerikas bedeckt‚ galt 1837 als sehr kühn. In England lehnte man den Begriff Eiszeit rundweg ab. Später verhalf der Schweizer Louis Agassiz diesem Begriff jedoch zu hoher Popularität. Nun scheint uns eine Wasserzeit bevorzustehen! Die Auen füllen sich wieder mit Wasser‚ das Meer steigt an‚ unser Weg zum Strand wird kürzer. Der Ozean‚ der Bruder des Kronos zeigt uns‚ wie stark er sein kann.« Esk saß noch immer auf dem Fell und schwieg‚ schließlich schaute er zu mir nach oben und sagte: »Meine Wenigkeit ist in Leidenschaft ergriffen gegenüber dem ewigen Eis‚ denn es ist wie eine Maske. Wie eine Person mitunter die Maske ablegt‚ so ist es auch jetzt. Es taut jetzt‚ aber binnen kurzer Zeit wird sich das Eis neu bilden‚ bald wird man darüber klägeln‚ die Liebinne am Himmel zeigt es an. Das Eis wird alle Spitzgebäude vor sich her schieben‚ so wie es der Allvater beschloß. Mein Volk ist beidlebig‚ weder das Eis noch das Wasser kann uns etwas anhaben. Ich weiß‚ eure Schutzredner verstehen dies nicht‚ dennoch werden sie die Knie falten müssen im Angesicht der Umwälzung!«
Ich war überrascht. »Esk‚ du meinst‚ die Liebinne‚ also die Venus‚ zeigt an‚ es käme eine neue Eiszeit und all dies jetzt wäre nur ein Zwischenspiel‚ dies hieße ja‚ mein altes Holzhaus würde vom Eis bis zum Meer geschoben‚ aber zu welchem Meer denn dann? Eine neue Völkerwanderung würde sich ja somit ankündigen‚ was ja erst einmal hieße‚ vor allem neue Schuhe kaufen und vielleicht auch später verkaufen‚ um überleben zu können!« »So ist es«‚ antwortete er. Wir tranken noch eine zweite und dritte Flasche Wein‚ unterhielten uns noch lange über die Klugheit der Schneehasen und gingen schließlich zu Bett. Esk schlief in der Küche auf Lolas Fell. In der Nacht träumte ich von riesigen Eismassen‚ welche sich auf Mitteldeutschland zu bewegten und all den Sachen‚ welche sie mit sich führten. Kleine Häuser standen auf riesigen Eisbergen und waren von tiefen Schluchten umgeben.
Am nächsten Morgen betrachtete Esk die verschneiten Bäume im Garten‚ er lief umher und meinte: »Der Wein‚ den wir aus den herrlichen Berggläsern tranken‚ war vortrefflich. In den Geistesanbau deines Gartens wirst du wohl keinen Mohn mehr aufnehmen können‚ aber die Antlitzseite des Hauses könntest du einmal wieder streichen‚ dies unterstriche seine Rolle als Gleichmutsweiser. Aber komm nun‚ ich will dir zeigen‚ was ich auf meinem Schlitten habe!« Er schlug die große Plane des Schlittens zurück und darunter befanden sich die wundersamsten Schuhe ganz unterschiedlicher Größe. Behende zog er mehr als ein Dutzend heraus und stellte sie paarweise in den Schnee. Gleich das erste Paar paßte mir wie angegossen‚ es war wunderbar‚ damit umher zu gehen. Mit freundlicher Miene offerierte er mir: »Wenn du zwölf Paar kaufst‚ erhältst du das dreizehnte Paar umsonst‚ denn die zwölf ist eine fatale Zahl‚ wie du wissen wirst. Erst die dreizehn‚ die wirkliche Glückszahl‚ eröffnet dem Leben den Weg ins Neue. Und für einen kleinen Aufpreis erhältst du‚ als Zeichen der Freundschaft‚ zwei meiner Schlittenhunde hinzu. Sagen wir dreitausend Schaumünzen‚ schlag ein!«
Ich schlug ein und war darüber selbst überrascht. Dreitausend Euronen hatte ich im Hause‚ denn es war schon lange viel zu gefährlich‚ sein Geld auf die Bank zu schaffen. Also holte ich einen alten Schuhkarton aus dem Schrank und gab ihm das Geld‚ ohne weiter darüber nachzudenken. Wir frühstückten‚ auch die Hunde bekamen ihren Teil und nach einem herzlichen Abschied fuhr er davon. Auch die Schlittenhunde verabschiedeten sich von den beiden‚ die bei mir blieben‚ sie waren schon etwas älter und vielleicht sogar ganz froh‚ nicht mehr jeden Tag so weit laufen zu müssen‚ hier sollten sie es gut haben. Für die Schuhe kaufte ich einen besonderen Schrank‚ sie haben eine hohe Qualität und sind schön anzusehen in all ihren dezenten Farben‚ Mustern und Formen‚ hohe und halbhohe sind dabei.
Nur das Eis am Nordpol‚ es taut und taut. Weder eine neue Eiszeit noch eine Völkerwanderung deutet sich an. Als drei Jahre vergangen waren und sich immer noch keine Eiszeit und Völkerwanderung angekündigt hatten‚ saß ich eines Abends im Lehnstuhl vor dem Haus und blickte versonnen in den Garten. Und anerkennend für unser Jahrhundert mußte ich eingestehen: »Wie klug doch die Schuhhändler in ihrem Berufe geworden sind!«

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