Sommerlinde auf Burg Scharfenstein
(Claus Irmscher)

Darf ich mich vorstellen? Im nordwestlichen Teil Thüringens‚ dem Eichsfeld‚ auf einem Sporn des Muschelkalkhöhenzuges Dün‚ zwischen Leinefelde und Heiligenstadt gelegen‚ neben der Burg Scharfenstein aus dem 12. Jahrhundert‚ 488 m hoch‚ bin ich verwurzelt. Mich hat man um 1450 nördlich vom Eingang der Vorburg gepflanzt‚ um Schatten für den Anger zu spenden. Seitdem bin ich fleißig gewachsen und hatte das Glück‚ daß kein Befugter oder Unbefugter Hand an mich gelegt hat‚ obwohl eine Menge passiert ist über die Jahrhunderte. Wie alt ich jetzt bin‚ kann jeder selber ausrechnen‚ je nachdem‚ wann er sich für mich interessiert und vielleicht einmal besucht. Fünf Jahrhunderte habe ich jedenfalls in der Rinde und die ist inzwischen rissig geworden. Die Leute erzählen‚ ich wäre der älteste Laubbaum im Eichsfeld. Das glaube ich natürlich gern und bin stolz darauf. Hatte ich das nicht schon gesagt? Na‚ man kann ruhig etwas zweimal sagen‚ wenn man so bemerkenswert ist. Ja‚ das Gedächtnis läßt langsam etwas nach. Aber vergleichen Sie mich doch mit sich selber! Ich erspüre immer wieder neue Leute unter meinen Zweigen und wenn sie das fünfte Mal da waren‚ sind sie nicht jünger geworden‚ sondern eines Tages ganz verschwunden und neue stellen sich ein. Im Vergleich dazu kann mir keiner den Saft im Kambium reichen. Das ist die Versorgungsleitung zwischen Stamm und Rinde‚ wenn Sie das nicht wissen. Ich war noch nicht ganz fertig mit meiner Begrüßung. Die muß sein‚ damit Sie mich erkennen‚ falls Sie mal erscheinen oder jemand auf die Thomas-Müntzer-Linde hinweist‚ die man gesehen haben muß. Diesen Namen trage ich ehrenhalber. Bei Ihnen soll das ähnlich sein‚ daß man nur wahrgenommen wird‚ wenn man viel Getöse um sich veranstaltet. Ich wirke durch meine Er~schei~nung. Mein dicker Stamm hat sich in drei Klafter Höhe geteilt und treibt von da aus krumme Äste in alle Richtungen‚ weil ich viel Licht brauche. Wenn Sie mich vermessen wollen‚ müssen Sie schon vier bis fünf Leute mitbringen‚ je nachdem‚ wie lang deren Arme sind‚ um mich zu umfassen. Genauer kann ich das selber nicht feststellen. Ich bin schließlich kein Vermessungsexperte.
Nun werden Sie sicherlich wissen wollen‚ was ich alles erlebt habe. Was vor meiner Pflanzung war‚ weiß ich nicht genau‚ habe nur gehört‚ daß es mal mächtig gebrannt hat. Darüber ist schon jede Menge Gras gewachsen. Die Pächter der Burg hießen‚ wenn ich mich nicht verhört habe‚ von Bültzingsleben‚ von Entzenberg‚ von Wintzingerode und von Westhausen‚ also alles Adlige‚ die‚ als ich gerade drei Jahrzehnte alt war‚ mit anderen Grafen wegen hinterzogener Steuern beim Erzbischof von Mainz‚ dem die Burg gehörte‚ Klage führten‚ einer gegen den anderen. Was ging es mich an?
Im Jahr 1525 wurde es ziemlich lebhaft um mich herum. Zuerst ist der »schlimmste Mönch«‚ der Prediger Heinrich Schwertfeger‚ genannt Pfeiffer‚ gekommen und ist vom Ritter Hans von Entzenberg gnädig aufgenommen und eingestellt worden‚ ob als Kaplan‚ Koch oder Kellermeister‚ weiß ich nicht. Jedenfalls muß er in den Dörfern lutherisch gepredigt haben. Das gefiel wohl einem Oberamtmann Stauffenbühel aus Heiligenstadt‚ dem Statthalter des Kurfürsten‚ nicht‚ und er sollte arretiert werden‚ weshalb sich jener durch die Flucht der Verhaftung entzog und mit Anhängern in seine Geburtsstadt Mühlhausen zurückkehrte‚ wo er mit Thomas Müntzer zusammen den Aufstand organisiert haben soll. Es wurde daraufhin viel geplündert und in Brand gesteckt‚ auch meine Burg‚ wenn ich so sagen darf. Dieser Pfeiffer‚ ein unangenehmer Bursche‚ soll das angeordnet haben‚ genau am 1. Mai‚ der damals noch nicht gefeiert wurde. Die Herrschaften waren zu der Zeit nicht da. Wer weiß‚ was dann passiert wäre? Tagelang ging das mit dem Plündern‚ bis nicht der kleinste Halm Korn und das letzte Faß Bier mehr da waren. Die schöne Burg war danach nur noch halb so ansehnlich. Mir haben die Lohen fast die Äste verbrannt.
Nach einer großen Schlacht in Frankenhausen hat man die Auf~rührer‚ wie die Knechte und Mägde später unter meinen Zweigen erzählten‚ in Mühlhausen gerichtet. Ich kann darüber nur meine Krone schütteln. Ob einer nun katholisch betet oder lutherisch‚ geht mir ehrlich gesagt am Chlorophyll in meinen Blättern vorbei. Als ob das wichtig wäre! Keiner weiß etwas Genaues‚ aber jeder will seine Einfalt dem anderen als Dogma aufdrängen. Sie wuseln da herum wie große Ameisen‚ diese Menschlein‚ anstatt ruhig und gesetzt aus der Erde Wasser und ein paar Nährstoffe zu ziehen und sich die Sonne aufs Blätterwerk scheinen zu lassen. Das Leben kann so einfach sein!
Nach den Unruhen hat mein früherer Herr‚ Friedrich von Wintzingerode‚ einiges auf der Burg wieder aufbauen lassen. Die Jahreszahl 1532 soll noch heute auf dem Querbalken über dem inneren Burgtor eingeschnitten zu sehen sein. Nach den vielen Predigten bestand‚ trotz der Fanatiker Müntzer und Pfeiffer‚ die ihren Übermut büßen mußten‚ die Aussicht‚ daß das ganze Eichsfeld protestantisch würde‚ was dem Luther gefallen hätte. Doch der katholische Landesherr pochte auf sein Recht‚ das religiöse Bekenntnis der Untertanen zu bestimmen‚ gemäß dem lateinischen Satz: »cuius regio‚ eius religio«‚ wie es die Be~stim~mung des Augsburger Religionsfriedens von 1555 festgelegt hatte. Ich hatte gerade meinen hundertsten Geburtstag in aller Ruhe und Bescheidenheit hinter mich gebracht. Erzbischof Daniel soll 1574 mit 2000 Mann zu Fuß und zu Pferd in Heiligenstadt erschienen sein‚ um Macht zu demonstrieren‚ tauschte kurzerhand kirchliche und weltliche Mandatsträger aus‚ besetzte die Ämter mit ergebenen Katholiken und gründete allda ein Jesuitenkolleg. Den Adligen Berthold von Wintzingerode‚ der am Protestantismus festhalten wollte‚ hat man 1575 nach Mainz verbracht und dort zum Tode verurteilt. »Recht tun behält sein Preis allzeit«‚ soll er noch gesagt haben. Weil auch viele Adlige vom rechten Glauben abtrünnig geworden waren‚ entzog man ihnen die wirtschaftliche Grundlage und löste die Ämter ein‚ so auch das der Burg Scharfenstein. Die übrigen derer von Wintzingerode mußten 1587 ausziehen‚ was ein Stein am Burgtor mit dem Mainzer Rad besagt und sich auf ihre Kernburg Bodenstein verfügen. Von Kurmainz wurde ein Vogt eingesetzt. Einige wenige Orte um Wintzingerode sind auch heute noch protestantisch‚ in einer Umwelt von Katholiken. Da soll noch einer behaupten‚ der Glauben sei von Gott gegeben! Mich hat man bei diesem Eigentümerwechsel dem Himmel sei Dank nicht behelligt. Ich vegetiere ja auch nur.
Mitten im Dreißigjährigen Krieg‚ um 1630 herum‚ ließ ein Weimarer Herzog‚ der sein Ländle vergrößern wollte‚ mit Zu~stimmung des Schwedenkönigs Truppen auf das Eichsfeld vor~rücken‚ die auch mal auf meinem Anger ein Picknick ver~an~stal~tet haben und sich brüsteten‚ was sie gerade wieder an Vieh in den Dörfern konfisziert hatten. Ob kaiserlich oder reformatorisch‚ geplündert haben sie alle.
Es residierten dann eine Reihe von weiteren Vögten auf der Burg. Ein gewisser Helmsdorff soll auf einer Reise in das belagerte Erfurt‚ das von Truppen des Mainzer Erzbischofs attackiert wurde‚ gegen 1664 von Wegelagerern erschossen worden sein. Friede seiner Asche!
Mit der Zeit verschlechterte sich der Zustand der Gebäude und die Vögte beklagten sich. Ich erlebte ständig‚ wie das Wasser mühselig auf Eseln vom Fuß der Burg nach oben transportiert wurde. Mir genügt das Regenwasser. Ich verstehe gar nicht‚ was die Menschen an der Gabe des Himmels auszusetzen haben. In der Mitte des 18. Jahrhunderts nach eurer Zeitrechnung konnte ich schon auf mein 300-Jähriges zurückblicken. Ein schönes Gefühl. Am Ende dieser kriegerischen Zeit wurde es erst ruhig und dann wieder unruhig. In Frankreich war Revolution und im Gefolge wurde die Oberherrschaft der Burg‚ das Erzstift Mainz‚ als geistliches Kurfürstentum säkularisiert. Ländereien links des Rheins fielen an das Nachbarland und unser Eichsfeld wurde dem Königreich Preußen zugeschlagen. Plötzlich kam ich unter preußische Verwaltung‚ ohne daß man mich gefragt hätte‚ genau so wenig wie das Menschenvolk unter meinem Blätterdach oder den Vogt‚ der munter weiter amtierte wie bisher. Der Rummel dauerte auch nur bis 1807‚ als ein gewisser Napoleon von einer Insel im Mittelmeer Weltverbesserer spielen wollte‚ die Preußen samt meinem neuen Herrn mit einem großen Heer auf dem Schlachtfeld besiegte und wieder mal alles anders regelte. Jetzt war ich mit meiner Burg eine geduldete große Pflanze im Königreich Westphalen. Der korsische Emporkömmling hatte sich meine Burg als persönliches Eigentum erwählt‚ um sie als Pfründe an Verwandte oder verdiente Militärs verteilen zu können. Neuer Herr‚ alter Zopf! Sie ist auch als Dotation ver~geben worden‚ nur war lange nicht klar‚ wer Hand~wer~ker~rech~nungen zu bezahlen hatte‚ die Verwaltungen des Kaisers aus Frankreich oder die des Königs von Westphalen‚ wie ein Ziegelbrenner unter meinen Zweigen schimpfte‚ der Monate auf sein Geld warten mußte.
Der ganze Spuk dauerte nicht lange. Nach der Abdankung des kurzen Korsen war unsere Latifundie mit der Burg und mir wieder preußisch. Die Verwaltung residierte in Halberstadt‚ weil es auf dem Weg nach Berlin liegt. Der neue Pächter‚ ein Ober~amtmann‚ wollte aus dem Scharfenstein ein Institut mit Merino-Schafen machen. Mir wäre das recht gewesen. Nur die vielen Holzdiebstähle‚ die wegen des Niedergangs der Hausweberei und Mißernten vermehrt auftraten‚ machten mir Sorgen. Ich bin ein mächtiger Baum mit vielen Kubikmetern Holz und es wird jede Menge gebaut‚ Sie verstehen? Da wurde am Nesselberg‚ ganz in meiner Nähe‚ dem Tale und Ort Beuren zu‚ ein Haus für den zuständigen Förster gebaut‚ der den Wald beaufsichtigen konnte‚ den man aufforsten wollte. Die Schafzucht war eine Fehl~ent~scheidung gewesen.
Jahre später wurde gar eine Dienstwohnung in der Burg für ihn ausgebaut. Wenn er die Nase aus der Burg steckte‚ roch er den Duft meiner hundertausend Blüten und hörte das Gesumm der Bienen. Er würde nicht Hand an mich legen‚ denn mit über 400 Jahren war ich längst ein Naturdenkmal. Ich stand nun unter dem Schutz des Staates‚ abgesegnet von Erfurt und Berlin! Die Verwaltung wollte viele ungenutzte Scheunen und Ställe abreißen lassen und schrieb sie zur Versteigerung aus. Doch die Gebote müssen wohl weit unter dem Taxwert gelegen haben. Kaum ein Interessent biß an. Für ein Viertel der utopischen Ausschreibung fanden sich endlich Bewerber. Ich merkte das alles erst‚ als es anfing zu hämmern und zu klopfen und daran‚ daß die Bauleute unter meinem Blätterdach ihre Vesperbrote vertilgten und sich darüber lustig machten‚ was die Feudalfritzen früher alles haben errichten lassen‚ das heute keiner mehr nutzen und bezahlen kann. Wie sich die Zeiten ändern!
Großes Tamtam haben mal nach achtzehnhundert zwei Päda~gogen‚ die beide Kellner hießen‚ aber keine waren‚ um eine Buche gemacht‚ die unweit von mir steht und angeblich auch 400 Jahre alt sein sollte. Die guten Leute sollen da mehrfach gefach~simpelt haben‚ wahrscheinlich aber zu freigeistig. Das Bischofskommissariat in Heiligenstadt verbot die unkon~trol~lier~bare Initiative und holte seine Schäfchen zu geistlichen Übungen heim in den katholischen Schoß auf den Hülfensberg oder in die Krankenanstalt Matrem Dolorosam nach Heiligenstadt. Wo käme denn die Kirche hin‚ wenn jeder Erzieher machte‚ was er wollte? Das bejubelte Objekt der »Geburtsstätte der Lehrer~kon~fe~ren~zen« zollte jedoch seinem gebrechlichen Alter Tribut und als Stürme das spröde Holz nach und nach demolierten‚ wurde mein entfernter Verwandter schließlich bodennah gesprengt. Ich wüßte das nicht‚ wenn mir nicht ein Eichhörnchen‚ das in meinem Stamm seinen Kobel hat‚ beim Nüsseknacken davon erzählt hätte.
Die Burg Scharfenstein wollte ein Militär aus dem Geschlecht derer von Wintzingerode nach 1900 unbedingt erwerben‚ weil seine Vorfahren doch während der Gegenreformation »des Besitzes beraubt« worden wären. Der Vorsteher der Familien~stiftung sah sich die Sache aus der Nähe an‚ schaute von innen und außen in alle Winkel‚ fragte nach Wasser und verweigerte jedwedes Kapital‚ als er den Zustand erkannte. Der kaufwillige Sproß der Sippe erwarb schließlich eine andere Burg. Adel ver~pflichtet eben.
1909 war ein schlimmes Jahr für euch Menschen und für mich. Vom 11. zum 12. September tobte ein solches Gewitter‚ daß das »Firmament als gewaltiger feuerspeiender Berg erschien«. Blitze schlugen ein und legten Wirtschaftsgebäude in Schutt und Asche. Mich hat es so mächtig durchgeschüttelt‚ daß ich an~nahm‚ mein letztes Stündlein würde schlagen. Es war ein Wunder‚ daß ich nicht groß beschädigt wurde‚ was ich auf meine guten Gene zurückführe.
In den nächsten Jahren wurde viel modernisiert‚ Heizung‚ Was~ser und Strom installiert‚ alles‚ was ihr verwöhnten Zwei~bei~ner so glaubt brauchen zu müssen. Die Frau des Försters durfte Milch und Limonade verkaufen‚ es konnten Gäste kommen‚ nur kein »Publikum in größerer Zahl«. Die Wanderfreunde be~suchten mich auch ohne Ausschank‚ wollten mich immer neu vermessen und schauten von der Terrasse ins Tal in den Sonnenuntergang. Eure Bürokraten verboten einige Jahre lang jeden Ausschank‚ bis die NSDAP-Kreisleitung darauf bestand‚ Ferienfahrten des Amtes »Kraft durch Freude« durchführen zu können. Die meisten Teilnehmer fuhren später ins feindliche Ausland‚ wo sie unerwünscht waren und mit Kugeln bewirtet worden. Da sehnte sich mancher zurück und hätte es vor~ge~zogen‚ lieber noch länger im eigenen Lande zu feiern.
Kurz bevor euer Krieg zu Ende war‚ haben sich im Wald unter mir Soldaten Erdhöhlen gebuddelt wie die Füchse und Dachse‚ bis Wanderfreunde in Uniform aus Amerika er~schie~nen‚ denen sie sich ergeben wollten. Danach kamen andere Militärs aus der Sowjetunion‚ die schnell mal einige Schweine requirierten und an Ort und Stelle schlachteten‚ ohne zu bezahlen.
Völlig unbeachtet von euch‚ die ihr mit dem Wiederaufbau beschäftigt wart‚ mit Reparationszahlungen im Osten und dem Verteilen der Geschenke des Marshallplans im Westen‚ feierte ich 1950 meinen 500. Geburtstag‚ ganz still und leise vor mich hin und genehmigte mir zur Feier einen tiefen Schluck aus dem Schichtwasser im Boden.
Die Gaststätte blieb geschlossen‚ bis 1960‚ als alles volkseigen geworden war‚ eine Reißverschlußfabrik in Heiligenstadt die Burg als Ferienobjekt übernahm. Vorher war eine Familie Gör~bert eingezogen‚ nachdem der Förster Heyn mit seiner Familie zum Auszug gezwungen worden war. Diesen Tausch hatte die Frau Elsa in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des Rates des Kreises bestimmt‚ was mir zu denken gab. So funktioniert also das neue Volkseigentum? Alles gehört allen‚ aber bestimmen darf nur eine. Komisch!
Die Funktionärsfamilie zog bald wieder aus. Es wurde erneut geklopft und gehämmert‚ damit 100 Kinder hier die Ferien verbringen konnten. Das gefiel mir‚ wie sie auf den Wiesen ihre Spielchen trieben und um die Wette um mich herumsausten‚ bis plötzlich an der Südostseite die Ringmauer mit Getöse ein~stürzte. Da war Nothilfe angesagt‚ weil es weder Material noch Geld für Handwerker gab‚ wie es anscheinend typisch wurde im Staat der Arbeiter und Bauern. Man tagte aber weiter und stellte im Sommer noch Bungalows aus Holz und Pappe für die Kleinen auf. Zwei Handwerker‚ die aus den Bruchsteinen ein Hotel zaubern sollten‚ wurden wieder abgezogen. Meine Burg blieb Wind und Wetter und dem Schicksal überlassen.
Großes Gewusel mit vielen Läuferbeinen erlebe ich jährlich beim Lauf »Rund um den Scharfenstein«‚ also auch um mich. Vor 80 Jahren war es der Verein »Concordia«‚ der noch mit »Gut Heil!« grüßte. Bei uns laufen die Unentwegten zwischen Kruzifixen und Stationswegen hin und her. Na‚ wenn es ihnen Spaß macht!
Geheimnisvoll ging es zu‚ als der »Kleine Grenzverkehr« zwischen Teistungen und Duderstadt eröffnet wurde. Ganze Fami~lien~sippen aus Ost und West trafen sich‚ schimpften auf die Politik im allgemeinen und auf die Häuptlinge im Osten‚ tauschten Bananen gegen billige Strumpfhosen und schworen sich ewige Treue.
Im Jahre 1990 hörte das Geraune und Getuschel zwischen Ost und West unter meinen Zweigen auf einmal auf. Die Welt~ver~besserer hatten das Handtuch geworfen‚ weil ihnen das Volk abhanden gekommen war. Die Dichter scheint die Müdigkeit der offenbar stark vergreisten Führung nicht sonderlich überrascht zu haben. Ich weiß das‚ weil einer mal unter meiner Krone Verse deklamierte‚ die teilweise ziemlich scharfzüngig‚ teilweise auch recht abgeklärt daherkamen. Seine Zuhörer schien diese Welt~sicht überhaupt nicht zu überraschen‚ sie setzten in oft sogar noch eins drauf‚ wobei sie Worte verwandten‚ die sich für die Poesie nicht schicken. Als nun plötzlich auch von Leuten‚ die nicht nach Verschwörern aussahen‚ vaterländische Lieder gesungen wurden‚ erfuhr ich‚ daß der neue Burgherr eine gewisse Treuhand sei mit der Eigenart‚ allen Besitz so rasch wie möglich veräußern zu wollen. Aber für die ewige Baustelle neben mir fand sie lange keinen Käufer. 2002 faßte sich die nahe Stadt Leinefelde ein Herz und erwarb den ganzen Prassel‚ doch beim Kämmerer stellten sich bald Herz-Rhythmusstörungen ein. So war man froh‚ noch einen anscheinend betuchten Herrn Professor anlocken zu können‚ der die halbe Anlage übernahm. Das Geklopfe und Gehämmer‚ das ich seit Jahrhunderten kenne‚ geht weiter. Irgendwann soll ein Museum für kirchliche Kunst und eine Kapelle entstehen und die Gaststätte wird zum Festsaal ausgebaut. Na‚ mal abwarten‚ obs was wird.
Ich habe inzwischen‚ nach über 5 Jahrhunderten‚ das Schicksal der alten Feudalburg‚ sozusagen hautnah‚ mitgetragen. Gut‚ ich war nur Zuschauer‚ doch als enger Nachbar nicht ohne Interesse und Sympathie. Schließlich ging es mir stets darum‚ nicht irgend~wann einer fürwitzigen Axt zum Opfer zu fallen. Bis jetzt hatte ich Glück oder war es Verständnis? Dann hätte ich mehr Wohlwollen erfahren als mancher menschliche Zeitgenosse‚ der ins Gras beißen mußte. Ich hoffe‚ ich mache es noch eine Weile‚ kann noch lange mit den Besuchern fühlen‚ die ins Tal hinunter schauen‚ auf Beuren‚ das Leinetal mit Leinefelde‚ den Zehnsberg‚ den Eichsfelder Kessel‚ die Harburg‚ die Ohmberge und bei klarem Wetter auf den Harz mit dem Brocken. Manche Leute behaupten gar‚ man könne vom Dachgeschoß oder aus meiner Krone heraus – doch wer traut sich‚ so hoch zu klettern ? – den Thüringer Wald mit dem Inselsberg entdecken.
Kommen Sie doch einfach mal vorbei! Vergessen Sie aber bei allem‚ was Ihnen heilig ist‚ nicht‚ an meine Rinde zu klopfen und mir weitere hundert Jahre zu wünschen!

Zum Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift